
Rutz, Berlin
Am 1. Oktober 2021 in Deutschland | 2460 Aufrufe | 2 Kommentare
Berlin hat lange auf den dritten Stern gewartet. Mit Marco Müllers „Rutz“ wurde es dann ein Restaurant, das nicht unbedingt an erster Stelle potentieller Kandidaten für die höchsten Michelin-Weihen war. Nach der ersten Überraschung kam aber auch wenig Widerspruch. Müllers regional ausgerichtete Küche, die ohne das „Brutal Lokal“-Etikett auskommt, hat wohl über die letzten Jahre eine Finesse erreicht, die die Auszeichnung nicht infrage stellen ließ.
Für uns ist es der erste Besuch im „Rutz“ und wir sind gespannt, wie uns dieser Stil, der auch im Rahmen der deutschen Dreisterner ein Alleinstellungsmerkmal einnimmt, gefallen wird.

Der Empfang in der Beletage des Restaurants ist schon mal überaus herzlich. Die Weinbar im Erdgeschoss wird offenbar derzeit nicht bespielt. Ob dies damit zusammenhängt, dass man mit dem „Rutz Zollhaus“ am Landwehrkanal mittlerweile eine Dependance betreibt, die sich der feineren Berliner Küche widmet oder dem allgegenwärtigen Personalmangel, können wir zu diesem Zeitpunkt nur mutmaßen. Einige Wochen nach unserem Besuch gibt das „Rutz“ bekannt, dass es ab Januar umgebaut wird und sich an diesem Standort ausschließlich der Küche von Marco Müller widmen wird. Die Weinbar wird danach wohl dauerhaft ins „Zollhaus“ umziehen. Auch so jedenfalls kann sich die aufmerksame Servicemannschaft heute ganz auf die etwa 20 Gäste konzentrieren.


Im Rutz gibt es ein Menü in sechs bzw. acht Gängen (198,-€ / 245,-€), jeweils inklusive Wasser. Thematisch ist Herbst heute der rote Faden, der das Menü bestimmen wird.
Und das beginnt mit einem Birkenwasser, das mit Lärchenöl, Honig und Tomate aromatisiert ist. Das changiert gekonnt zwischen frisch und ganz leicht erdig, die Tomate schimmert nur zart durch. Ähnlich wie kürzlich mit einem unglaublich intensiven Tomatenwasser in der Züricher „Neue Taverne“, begeistert mich auch hier die Komplexität, die in einer derart klaren Flüssigkeit als Einstimmung steckt.

Als nächster Snack folgt ein Chip mit einem Lammtatar, feingeschnittenem Kopfsalat, Lauchcreme und einem Muschelpulver. Was vermeintlich kräftig anmutet, ist relativ mild gewürzt und stellt erneut einen erdigen Grundton in den Vordergrund. Die Kombination ist stimmig und köstlich.

Den Abschluss der Einstimmungen bildet Ei mit Aalschaum. Das Ei wie ein Chawanmushi zubereitet, dazu Erbsen, Brotcrunch, Ponzu-Dashi, Estragonöl und Pulver von Roter Oxalis. Wie so oft präsentiert sich also unter einem vermeintlich unscheinbaren Äußeren eine recht komplexe Komposition, die sich warm, mild und sehr aromatisch am Gaumen ausbreitet. Klasse!

Das Menü startet mit Kaisergranat, das als Tatar gearbeitet ist und ummantelt von vorab vakuumierter Gurke. Dazu gibt es mit Holzkohle aromatisierte Crème fraîche. Ein roter Zwiebelsud und Kiefernöl runden alles ab. Die Frische des Kaisergranats geht ein wenig in der cremigen Grundstruktur auf. Süße und kräutrige Noten ergänzen sich auf sehr harmonische Weise und machen dies zu einem schönen Auftakt.

An dieser Stelle werden ein Blutwurstbrötchen und Brot serviert, dessen Sauerteig seit mittlerweile sieben Jahren gepflegt wird. Dazu gibt es zweierlei Butter, bei der mir vor allem die mit Fenchel-Anis-Geschmack sehr gefällt.
Für den folgenden Gang wäre optional auch ein Upgrade mit Kaviar möglich gewesen. Wir entscheiden uns aber für die Solo-Version und die besticht erneut mit einer sehr durchdachten Kombination, in der abgeflämmter Hamachi von Kartoffel in Texturen eingefasst ist. Gebrüht in feinen Streifen, zusammen mit Kohlrabi, dazu ein leicht gebundener Backkartoffelsud, der mit seiner fermentierten Note eine schöne Tiefe in das Gericht bringt. Saiblingskaviar setzt hier feine, vor allem texturelle Akzente.
Ein ungewöhnliches Gericht, tiefgründig und köstlich.

Mit einer nur ganz fein marinierten Forelle, die aber ansonsten relativ pur belassen wurde, geht es weiter. Die Haut als Chip setzt hierzu einen markanten Gegenpol. Erneut ist der Kaviar so präzise portioniert, dass er nur sehr punktuell seine Wirkung entfaltet. Petersilie kommt als geeiste Perlen, mit den Stielen und als Öl im Buttermilchsud zum Einsatz. Ein ungewöhnlich schönes Gericht, elegant und ausgesprochen harmonisch mit einem tollen Textur- und Temperaturspiel.
Nicht minder ungewöhnlich präsentiert sich auch der folgende Gang. Laubporling und Pfifferlinge sind scharf angebraten, Brombeergel, Johannisbeeressig und Pilzlack bilden das würzige Gerüst für das wie ein Sabayon aufgeschlagenes Ochsen-Garum. Dieser Teller ist sehr fleischig, füllig und bietet viel Umami.

Kalbsbries mag ich normalerweise lieber kross angebraten. Hier allerdings kommt es ohne scharfe Röstnoten, aber dafür trotzdem mit fester Struktur. Eine vorher im Hühnersud eingelegte Zwiebel ist dafür angeröstet und liefert die etwas rustikaleren Töne in diesem Gericht. Wunderlauch, für uns bisher neu, aber wohl auch als Berliner Bärlauch bekannt, ist in Texturen eingesetzt, Kalbsohren als hauchdünne Chips. Erneut ein Gang, in dem sich ein komplexes Geschmacksbild mit feiner Süße und Fülle zu einem leckeren Vergnügen zusammenfügt.

Extrem aufwändig und überraschend wird es auf dem folgenden Teller. Diverse Tomaten – gelbe Ochsenherz, Kirschtomaten, Green Zebra) wurden unterschiedlich behandelt, dehydriert, rehydriert. Tolle Qualitäten, unterstützt von einem intensiven Tomatensud werden kontrastiert mit warmen, knusprigen Barschschuppen. Was für eine unerwartete Komponente. Stachelbeere steuert zusätzliche Säure bei. Dass diese so wild klingende Kombination so wunderbar aufgeht, belegt für mich, dass hier sehr durchdacht konzipiert wird.
Aber damit ist es noch nicht genug. À part gibt es einen Sud aus Stabmuscheln und Kirschtomaten. Das ist recht salzig und das erste Mal deutlich kräftiger, funktioniert aber sehr passend zum Hauptteller.
Als Einleitung zum Hauptgang wird vorab ein Tatar vom Schwein auf einem Chip aus gepuffter Schweinehaut serviert. Eine Blutcreme sorgt dafür, dass es etwas breiter erscheint, während ein Gel aus Seegras ein wenig Frische liefert. Funktioniert als Intro zum folgenden Hauptteller sehr gut.

Warum der Gang als Kindheitserinnerung betitelt ist, wird zwar nicht erklärt, aber mit viel Phantasie kommen Assoziationen zu einem Bohneneintopf auf, denn es sind eigentlich alle Zutaten dafür enthalten.
Ein sattes Stück vom Schweinenacken, das relativ fest und daher etwas schwer zu schneiden ist, aber dafür sehr geschmackvoll, wird unterstützt von selbst gemachtem Lardo. Der ist kräutrig, würzig und für sich genommen schon ganz hervorragend. Dazu gibt es ein Arrangement aus Bohnenkernen, Brunnenkresse und einem – pardon – sehr geilen Knusper vom Schweinebauch. Auch die Sauce, zwar relativ leicht, aber erneut sehr aromatisch, auf Basis von Bohnensaft und Schweinefüßen, unterstreicht den sehr kreativen und eigenständigen Charakter.

Für das Dessert werden die Geschmackspapillen vorab noch einmal auf Habacht-Stellung gebracht. Das Granité von Zitronentagetes mit einem Tee von Rhababer und Gin ist natürlich frisch, aber eben auch mit einer prägnanten Schärfe durch deutlich eingesetzte Chili versehen.

Das Herbst-Thema wird auch zum Abschluss noch einmal aufgenommen – und das nicht nur in beeindruckender optischer Weise. Das aufwändige Arrangement aus Wildquitte, verarbeitet als Gel und als Eis, geeister Joghurt, Baumkuchen, Johannisbeerholz als Gel, Selleriechips sowie die Jungsprossen der Fichte sorgen für ein kaum süßes, abwechslungsreiches Vergnügen.

Anstelle von klassischen Petit Fours gibt es als letztes Finale noch ein Post-Dessert in Form eines Fichtennadeleises auf einer Sonnenblumencreme mit Berberitzen. Das ist nicht zu süß, eher etwas herb und doch erneut sehr harmonisch.

Die Petit Fours gibt es dann übrigens doch noch – in einer Schachtel zum Mitnehmen mit der Rechnung. So haben wir auch am nächsten Tag noch einmal eine schöne Erinnerung.
Die Gerichte im „Rutz“ werden häufig als eher leise beschrieben. Das kann man durchaus so sehen, vor allem im Gegensatz zu anderen Häusern, in denen aromatisch gerne auch mal bis an die Grenze ausgereizt wird. Für mich war auffällig, dass sich durch das gesamte Menü kaum eine Komponente in den Vordergrund gespielt hatte. Es ist nicht ohne Grund, dass sich das Attribut harmonisch konsequent durch meine Aufzeichnungen zieht.
Im ersten Moment überraschen vor allem die oft gewagt anmutenden Kombinationen, die sich aber immer schlüssig auflösen. In der Rückbetrachtung erscheinen mir viele Gerichte wie Bilder, in die man langsam eintaucht und deren Zauber sich erst mit Abstand völlig entfalten.
Stilistisch passt das in wenig, das wir bisher auf diesem Niveau erlebt haben. Der Service, perfekt und charmant geführt von Falco Mühlichen, hat viel zu den Gerichten zu erzählen. Und ja, dies ist eine Küche, die eine Geschichte erzählt, eine von Regionalität, von Jahreszeit, Nachhaltigkeit und Kreativität. All das aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit einer nahezu spielerischen Poesie.
Wir wollen Nancy Grossmann nicht vergessen. Die Gault Millau Sommelière des Jahres bietet zwar auch eine wohlfeile Weinbegleitung, steuert einen aber auch gekonnt durch die umfangreiche Weinkarte und geht dabei wunderbar auf die Wünsche des Gastes ein.
Dieser Besuch hat uns nachhaltig überrascht und eingenommen. Es wird nicht der letzte gewesen sein.
Details
Restaurant: | Rutz |
Adresse: | Chausseestraße 8, 10115 Berlin |
Öffnungszeiten: | Dienstag bis Samstag: ab 18.00 Uhr Sonntag + Montag: Ruhetag |
Website: | www.rutz-restaurant.de/ |
Schlagworte
3 Michelin Stars, Berlin, kreativ, Marco Müller, regional, Rutz Weinbar
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Wie stets gekonnt beschrieben, aber vor allem wunderbar erzählt. Es entsteht ein Gefühl, in das man abtaucht, harmonisch halt. Bravo!
Ich vermisse eine kleine Info zu der Weinauswahl…..sonst war das wirklich ein wundervolles Menü. Und es erinnert ein wenig an die alte Schule in Fürstenhagen, wo wir immer noch mal zusammen essen wollten.