100/200, Hamburg

Thomas Imbusch hat bei der Konzeption seines eigenen Restaurants vieles anders gemacht.

Die Lage ist nicht in irgend einem hippen Trendviertel, sondern tief in einem Industriegebiet in Rothenburgsort. Etwas mühsam, wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreist, aber noch machbar. Mit dem Taxi scheint es auch nicht einfacher. Bevor wir mit dem Aufzug in den zweiten Stock hochfahren können, müssen wir noch auf einen amerikanischen Gast warten, dessen Taxifahrer offenbar Orientierungsprobleme hatte. Angekommen im schwarz gestrichenen Restaurant kann man, zumal im Herbst und abends, nur erahnen, dass die Aussicht auf die Elbbrücken tatsächlich faszinierend ist. Vielleicht wird das ja doch mal irgend wann ein In-Viertel. Auszuschließen ist es nicht.

Bevor man allerdings überhaupt Eintritt bekommt, muss man ein Ticket kaufen, ähnlich einem Konzertbesuch. Imbusch arbeit mit dem Tock-System und reduziert damit deutlich das Risiko der immer heftiger um sich greifenden No-Shows. Auch das trauen sich heute noch nicht viele Gastronomen. In Deutschland erst recht nicht.

Eine Speisekarte gibt es vorab genau so wenig wie eine üppige Abfolge von Luxuszutaten. Es werden zwei Tiere verarbeitet. Und zwar im Ganzen. Sie werden solange verarbeitet, bis sie aufgebraucht sind. Dann gibt es eben auch mal Innereien statt Filet. Ohne Diskussion. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Manchmal auch in der Pfanne oder Schüssel, so dass sich alle am Tisch daraus bedienen. So, wie es auch zuhause ist.

Ein eindrucksvoller Molteni-Herd in der Mitte des Gastraums ist Zentrum des Geschehens. Hier wird nicht sous-vide gegart oder molekular gespielt. Bei 100 Grad wird auf dem Herd, bei 200 Grad im Ofen gekocht. Alles spielt sich vor den Augen des Gastes ab. Alles ist transparent.

Küche
Küche

Als Gast muss man sich also erst mal auf vieles einlassen, das einem vielleicht ungewohnt erscheint, weil es mit einigem bricht, an das man sich gewöhnt hat, wenn man etwas gehobener essen geht. Aber da die Spielregeln ja bekannt sind, kann jeder für sich entscheiden, ob er das möchte oder nicht. Ich möchte das. Denn dieses Konzept, das Handwerk und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt, gepaart mit Imbuschs reduzierter, aber geschmacksintensiven Küche, reizt mich ungemein.

Ist man erst mal im Restaurant angekommen, hat man an der Bar, an der man seinen Apéritif nimmt, Gelegenheit, den Raum und das Geschehen auf sich wirken zu lassen. Obwohl alles schwarz gestrichen ist, kommt kein bedrückendes Gefühl auf. Im Gegenteil – die Lichtgestaltung ist so geschickt gestaltet, dass es warm und harmonisch wirkt. Die Musik ist ein wenig lauter als üblich. Irgendwie finde ich das alles von Anfang an ziemlich cool.

Das Menü startet am Tresen des Molteni-Herdes, wo Thomas Imbusch und seine Köche in zügiger Abfolge fünf Happen servieren, die die jeweiligen Geschmackssinne süß, sauer, salzig, bitter und Umami herausarbeiten.

Besonders gut gefallen mir dabei die Auster, die mit etwas Kimchi Schärfe und mit Fett eine angenehme Üppigkeit bekommt sowie die aus Hühnerfüßen ohne irgendwelche weiteren Zutaten gekochte Brühe, die mit ihrer Intensität überrascht.

Alle Kleinigkeiten überzeugen in jedem Fall mit einem klaren Geschmacksbild und abwechslungsreichen Texturen. Durch das schnelle Servieren, das keine Pause vorsieht, sind die Geschmackspapillen auch gleich mal ordentlich in Fahrt gebracht, so dass es dann am Tisch mit dem eigentlichen Menü weiter gehen kann.

Zuvor allerdings bringt einer der Köche aber noch das frisch gebackene Sauerteigbrot und einen Topf mit luftig aufgeschlagener Joghurtbutter, aus der eine üppige Nocke portioniert auf feinstem Hering-Porzellan landet.

Sauerteigbrot / Joghurtbutter
Sauerteigbrot / Joghurtbutter

Am heutigen Abend wird es vor allem Goldforelle und Jungrind, beides aus Schleswig-Holstein, geben. Und schon der erste Gang ist eine echte Wonne.
Der Bauch der Goldforelle, die einen lachsartigen Charakter hat, wurde abgeflämmt. Der eingelegte Rettich hat seine Schärfe komplett abgelegt und ist sehr mild. Der Dashi-Fond ist mit brauner Butter gearbeitet. Gemeinsam mit dem Petersilien- und Pistazienöl ist das weich, mundfüllend und – ja, hier trifft es mal wieder zu – geradezu mollig.

Goldforelle - Gebrannt / Rettich / Dashi
Goldforelle - Gebrannt / Rettich / Dashi

Zum nächsten Gang, dem Tatar vom Jungrind, erklärt uns Thomas Imbusch, dass das Tier durch einen Weideschuss getötet wurde, was bedingt durch den Überraschungseffekt und die gewohnte Umgebung auf der Weide keinerlei Stress für die Tiere verursacht und sich somit auch positiv auf die Fleischqualität auswirkt.
Das Tatar erscheint zunächst recht pur, aber die entscheidenden Mitspieler finden sich im Teller unter dem Fleisch, nämlich Senf, Walnuss und eine Petersiliencreme. Separat dazu gibt es ein fluffiges Röstbrot. Wirkt einfach, ist in Summe aber komplexer, als man erwarten möchte.

Zurück zur Goldforelle, von der es nun ein Stück aus dem Loin gibt, begleitet von dreierlei Kohl. Grünkohl in frittierter Form, Weißkohl, der mit fein gewürfeltem und angemachten Rotkohl gefüllt ist sowie eine tolle Rotkohlsauce. Die Haut knusprig separat, dazu noch etwas Forellenkaviar und fertig ist das Musterexemplar eines zutiefst regional geprägten Gerichtes, das beweist, wie elegant man auch Kohl in Szene setzen kann.

Goldforelle - Gebraten / Kohl / Kaviar
Goldforelle - Gebraten / Kohl / Kaviar

Weiter geht es mit der Schulter vom Rind, die stark geschmort wurde und in einer Art Pulled Beef in ein Nudelblatt gerollt wird. Dazu gibt es Rindermark und eine Kruste, in der noch mehr Mark verarbeitet wurde. Die Demi Glace wurde mit reichlich Rotwein eingekocht, was ihr eine intensive Tiefgründigkeit gibt. Etwas Petersilienöl vervollständigt dieses schlotzige Vergnügen. Das ist einfach nur lecker.

Jungrind - Brust / Bordelaiser Art
Jungrind - Brust / Bordelaiser Art

Für den eigentlichen Hauptgang wird es super klassisch. Am Tisch präsentiert uns einer der Köche das fertig gebackene Filet Wellington. Serviert wird es ganz pur nur mit einer stark reduzierten Sauce. Da es sich um ein Jungrind handelt, ist das Fleisch sehr mager, ähnlich dem eines Kalbes. Das Wellington ist perfekt auf den Punkt gegart.

In solch einem Gericht kann man vielleicht am besten viel von Imbuschs Philosophie erkennen. Hast Du ein perfektes Produkt, braucht es nicht viel, außer gutem Handwerk, um es perfekt in Szene zu setzen. Natürlich hätte man hier auch noch diverse Beilagen dazu geben können. Hier eine Variation von diesem oder jenem Gemüse, dort ein Türmchen von irgendwas, vielleicht noch ein Schäumchen und eine zweite Sauce, um zu zeigen, was man alles kann. Und ich bin sicher, dass Imbusch das alles könnte. Er hat schließlich bei den Besten, darunter Christian Bau, gearbeitet. Aber das ist seine Sache nicht, weil es nur ablenken würde vom eigentlichen Star auf dem Teller. Und warum nicht das Fleisch in einen ganz klassischen Kontext bringen, wenn es das ist, was es glänzen lässt – damals wie heute? Wer macht sich heute noch die Mühe, ein Filet Wellington herzustellen, das ein ganz genaues Timing erfordert, zumal im Ablauf eines Menüs? Ich jedenfalls freue mich und bin beeindruckt.

Den Übergang zur süßen Abteilung macht ein ungemein saftiger Macaron mit Kokos und Karamell.

Kokos / Karamell
Kokos / Karamell

Als wäre es ein Abend der Küchenklassiker, ist auch das Dessert eine Patisserieberühmtheit. Der Baba au Rhum genießt vor allem in Frankreich Kultstatus. In den Restaurants von Alain Ducasse zum Beispiel ist ein Menü ohne diesen Nachtisch wohl nicht vollständig. Wir waren dort noch nicht, weshalb ich das nicht beurteilen kann, aber die hymnischen Verehrungen sprechen für sich.
Diese großen Vorbilder blende ich allerdings aus und wähle meinen Rum aus. Neben einer Standardversion gibt es gegen einen überschaubaren Aufpreis einen höherwertigen, mit dem das fluffig lockere Gebäck am Tisch getränkt wird. Dazu gibt es noch etwas Kompott und Vanillesahne. Insgesamt macht das alles einen etwas alkohollastigen Eindruck, ist aber trotzdem köstlich.

Baba au Rhum
Baba au Rhum

Den Abschluss bilden dann noch ein mit Lavendelcreme gefüllter Windbeutel, bei dem der Lavendel erfreulich dezent bleibt und direkt auf einem Löffel serviert etwas gekühlte Schokoladenganache.

Thomas Imbusch bleibt auch in seinem eigenen Restaurant seiner Linie treu, die er schon im „Offclub“ von Tim Mälzer, und dort vor allem im „Madame X“, präsentierte, wo er durch Reduktion und Beschränkung auf wenige Komponenten eine größtmögliche Fokussierung auf das Hauptprodukt gelenkt hat. Einher geht das auch im „100/200“ mit ausgeklügelten Kombinationen und hervorragendem Handwerk, die den Geschmack immer in den Vordergrund stellen. Es geht hier um das Erlebnis des Genießens und nicht um intellektuell, dogmatische Herausforderungen, die womöglich eher anstrengend als lecker schmecken.

Interieur
Interieur

Aber anstrengend ist an diesem Abend sowieso nichts. Die Stimmung ist hochgradig entspannt. Es gibt viel zu gucken, es gibt viel zu plaudern. Die Köche, wie auch Imbusch selbst, agieren häufig direkt am Gast. Der Service unter Sophie Lehmann und Jan-Phillip Fricke läuft professionell. Das alleine ist ja nichts ungewöhnliches. Das schreibe ich über viele Restaurants, wo das auch so ist. Und doch fühlt es sich hier irgendwie anders an, erfrischend anders. Und wenn man so will, eben auch cooler. Betrachte ich das Gesamterlebnis dieses Abends, gehört der Besuch im „100/200“ sicherlich zu denen, die in 2018 einen der stärksten Eindrücke hinterlassen haben. Und das hat sicher damit zu tun, dass Thomas Imbusch tatsächlich vieles anders macht als viele andere. Und offenbar macht er damit auch verdammt viel richtig.

Details

Restaurant: 100/200
Adresse: Brandshofer Deich 68, 20539 Hamburg
Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag: 18:00 - 24:00
Sonntag + Montag: Ruhetag
Website: www.100200.kitchen

Schlagworte

, , , , , ,

Verwandte Artikel


Dein Kommentar