Spectrum, Amsterdam

Mit der Kulinarik ist es in gewisser Weise wie mit Musik. Die Auswahl an Noten ist begrenzt, aber das Spektrum an Kompositionen ist ungemein vielfältig. Von minimalistisch bis überbordend, harmonisch bis disharmonisch. All das kann man ebenso auf Tellern finden. Auch wenn viele Gerichte ähnlich wirken, weil halt die Zutaten häufig die gleichen sind, ist es manchmal eine Winzigkeit, quasi eine Halbnote, die den Gesamtakkord überraschend erscheinen lässt und eben aus dem Allerlei des Mainstreams heraus hebt.

Und dann gibt es diese Musikstücke, die einen aufhorchen lassen, weil sie so gänzlich anders klingen, als vieles, das man bis dahin gehört hat. So als hätte jemand neben Pop, Jazz und Klassik eine neue Musikrichtung erfunden.

Vielleicht ist diese allegorische Einleitung etwas arg hochtrabend, aber wenn ich an unser erstes Essen im „Librije’s Zusje“ im Amsterdamer Waldorf Astoria Hotel denke, erinnere ich tatsächlich zahlreiche überraschende Gänge, die mir vollkommen innovativ erschienen. Ungewöhnlichst kombiniert, technisch faszinierend und fast durchgehend verblüffend – köstlich zudem.

Dass ich bei der überwältigend großen Auswahl an spannenden Restaurants in Amsterdam ausgerechnet noch einmal hierhin wollte, hat eben genau damit zu tun. Ich wollte unbedingt noch einmal diese Wow-Effekte erleben. Mittlerweile haben sich Jonnie und Therese Boer vom legendären „De Librije“ als Namensgeber und Mentoren von ihrem Schwesterrestaurant getrennt. Das Restaurant hat ein Facelift und mit „Spectrum“ einen neuen Namen bekommen Ob dies auch Auswirkungen auf die Küchenlinie von Sidney Schutte hat, der auch bis hierhin schon der höchst ausgezeichnete Koch der Grachtenstadt war, wollen wir an diesem Abend herausfinden.

Auch im „Spectrum“ gibt es weiterhin zwei Menüs, eines davon vegetarisch zu 180€ bzw. 170€.
Wir entscheiden uns für die Fisch-/Fleisch-Version und starten mit vier Amuses Bouches.

Als erstes erreicht uns ein kunstvoll arrangierter Happen, der Grapefruitceviche verheißt mit Shiso, Avocado und Algensalat. Auf einem gedämpften und doch auch irgendwie frittiert wirkenden Teigteil ergibt sich ein angenehm frischer Gesamteindruck. Aber bei dem einen Bissen fällt es schwer, die Einzelkomponenten in allen Details auszumachen.

Grapefruitceviche, Shiso, Avocado, Algensalat
Grapefruitceviche, Shiso, Avocado, Algensalat

Mit Schnecken hat es Sidney Schutte, denn auch bei unserem letzten Besuch gab es eine bei den Grüßen. Diesmal ist es eine Flügelschnecke, die mit einer samtigen Mousse von Blumenkohl und Kaffirlimette sowie Kaviar gefüllt ist. Die Schnecke selbst vermissen wir zwar und vermuten sie in der Mousse, aber Sascha Speckemeier, einer der elegantesten und charmantesten Maître, die ich kenne, betont, dass da schon auch echte Schnecke hätte sein sollen. Irgendwie ist sie aber uns beiden offenbar abhanden gekommen oder wir haben sie einfach beim Auslöffeln nicht erwischt. Trotzdem ist dies eine runde, harmonische Kombination, die durch den Kaviar einen angenehmen, leicht jodigen Touch erhält.

Flügelschnecke, Blumenkohl & Kaffircreme, Kaviar
Flügelschnecke, Blumenkohl & Kaffircreme, Kaviar

Auch beim nächsten Gruß ist die Größe eher ein Hindernis, denn man muss ihn in einem Bissen vertilgen. So ungewöhnlich und spannend die Zutaten klingen, so wenig haben sie dabei die Möglichkeit, sich zu entfalten. In jedem Fall ist die Blutwurst deutlicher schmeckbarer als der Oktopus. Ich finde es etwas schade, dass bei den spannenden Zusammenstellungen Chancen vergeben werden, diese ausgiebiger zu erkunden.

Eingelegte Blutwurst, Sanddorn, Zitronenperlagonie, Erdnuss, Oktopus
Eingelegte Blutwurst, Sanddorn, Zitronenperlagonie, Erdnuss, Oktopus

Genau diese Möglichkeit eröffnet sich aber mit dem abschließenden Amuse Bouche. Die karamellisierte Kalbsleber findet sich in einer süffigen Sauce aus Spargel und Lakritz , bei der vor allem die Fenchelsaat sehr spürbar ist. Eine hoch interessante Kombination und für mich das beste Amuse.

Karamellisierte Kalbsleber, Fenchel- & Senfsaat, weißer Spargel & Süßholz
Karamellisierte Kalbsleber, Fenchel- & Senfsaat, weißer Spargel & Süßholz

Das Menü selbst startet mit einer nicht so ungewöhnlichen Paarung von recht magerem Toro und Gänseleber. Den besonderen Kick bekommt dieses Gericht jedoch vor allem von der Luftschokolade, unterstützt von den maritimen Noten der frittierten Garnelen und der Algen.

Toro, Gänseleber & Yuzu, Pure Schokolade, Holländische Garnelen, Kodium
Toro, Gänseleber & Yuzu, Pure Schokolade, Holländische Garnelen, Kodium

Ein bekanntes Gericht begegnet uns im nächsten Gang. Den Carabinero auf langsam gegartem Short Rib hatten wir auch bereits im letzten Jahr. Vor allem die überwiegend knusprige Konsistenz des Fleisches ist wieder faszinierend. Die Melone liefert frische Noten und über allem liegt eine angenehme Schärfe, eventuell durch Piment d’Espelette? Sehr gut und schön, dass es dieser Gang auch ins neue Programm geschafft hat.

Carabinero, knusprige Short Rib, geröstete Spitzpaprika, Wassermelone mit Ingwer, X.O. Creme
Carabinero, knusprige Short Rib, geröstete Spitzpaprika, Wassermelone mit Ingwer, X.O. Creme

Von verblüffender Optik dann der Sepia, der eingeschnitten wie Schweinebauch und mit Kaffee und Kalbsjus glasiert ist. Unter der hauchdünnen Hülle, die ich ursprünglich für Lardo gehalten habe, die aber tatsächlich auch vom Sepia ist, befinden sich noch Mangowürfel, Schnecken und Koriander. Der Kardamomschaum rundet dieses durch und durch originelle Gericht ab. Großes Kino!

Kaffee glasierter Sepia, große Strandschnecke, Kardamomschaum, Mango & Koriander
Kaffee glasierter Sepia, große Strandschnecke, Kardamomschaum, Mango & Koriander

Nicht minder ausgezeichnet der folgende Wolfsbarsch mit aufgepoppten Schuppen, einer Rote Bete Sauce mit deutlicher Tonkabohnennote und Bärlauchöl. Mit der Kaviarcreme vom Lumpfisch und den Streifen vom Spargel ergibt sich ein handwerklich fabelhafter und extrem fein austarierter Gang. In meinen Aufzeichnungen finden sich drei Ausrufezeichen…

Wolfsbarsch, Rote Bete, Tonkabohne, weißer Spargel, Kokosnuss, Seehasenkaviar & Bärlauch
Wolfsbarsch, Rote Bete, Tonkabohne, weißer Spargel, Kokosnuss, Seehasenkaviar & Bärlauch

Bei den Hauptgerichten kann man zwischen zwei Optionen wählen und wir entscheiden uns auch für beide. Mein Mann bekommt Ente, die unglaublich zart zubereitet ist. Aubergine, schwarze Olive und super kross ausgearbeitete Haut als Beilage sind schon toll, aber noch besser gefällt mir die intensive Jus sowie die à part servierte Consommé mit Innereien.

Mein Hauptgang toppt diese schon großartige Präsentation noch mal locker. Bei der Kombination Lamm und Rollmops muss ich ob des Wagemuts erst mal schlucken. Aber auf dem Teller löst sich das auf wunderbare Weise auf. Der Rollmops ist getrocknet und als Brösel verarbeitet, die das Lammfilet umhüllen. Das ist ein faszinierender Geschmack, den ich in dieser Form noch nie erlebt habe und der durch diese Verarbeitung nur noch einen flüchtigen fischigen Geschmack aufweist, der mehr als Würzung dient. Aber das ist natürlich noch längst nicht alles. Auf einem Ragout vom Nacken, in dem Baharat als Gewürz deutlich erkennbar ist, befindet sich eine Kugel von grünem Kataifiteig, in die Innereien gearbeitet sind. Auch das ist von großer Klasse, wie überhaupt beide Hauptgerichte von enormer Originalität geprägt sind und ein gutes Gegenbeispiel darstellen für den häufig beklagten Abfall der Qualität bei den Hauptgängen.

Geröstetes Lammfilet, Herz, Niere, Leber, Zunge, Rollmops & Baharat, Reiscreme
Geröstetes Lammfilet, Herz, Niere, Leber, Zunge, Rollmops & Baharat, Reiscreme

Auch der Käsegang steht in Punkto Kreativität nicht zurück. Der Ziegenkäse findet sich in gefrorener und gehobelter Form auf einer Rote Bete ummantelten Mousse vom Limettenblatt. Das ist sehr komplex, lässt mal Zitrusnoten in den Vordergrund treten, mal erdigere Aromen. Hier passiert alles mögliche und alles ergibt immer einen köstlichen Akkord. Ein toller Gang.

Limettenblatt, Ziegenkäse, Rote Bete, Tamarillo & Mandeln
Limettenblatt, Ziegenkäse, Rote Bete, Tamarillo & Mandeln

War das Dessert bei unserem letzten Besuch für mich noch der schwächste Gang, ist dies dieses Mal anders. Auch hier wird es wieder optisch beeindruckend. Das Rotkohleis mit Knusperblatt ist begleitet von Kencur, einer indischen Ingwerart, Litschi, Pistou als Luftschokolade und Schokolade in geeisten Perlen. Laban, eine Joghurt-ähnliche Zubereitung aus dem Nahen Osten aus verschiedenen Milchsorten liefert einen zusätzlich orientalischen Touch. Das ist hoch-originell und sehr spannend. Ein ausgezeichnetes Dessert, anders als vieles andere und nahezu Horizont erweiternd.

Rotkohleis, Kencur, Laban, Litschi, Pistou Schokolade
Rotkohleis, Kencur, Laban, Litschi, Pistou Schokolade

Bei den Petits Fours gibt es einige Déjà-vus. Denn zwei Apéros vom Beginn des Abend kommen in genau identischer Präsentation, jedoch in süßer Ausführung.
Sowohl die Grapefruit als auch die „Blutwurst“, die jetzt einen deutlichen Erdnussgeschmack aufweist, sind nette Gimmicks.

Wie auch schon im vergangenen Jahr gibt es auch dieses Mal einige Pralinen, die Aromen aus den Menüs aufnehmen. In der Karte sind die einzelnen Gänge farblich markiert, damit die Zuordnung leichter fällt. Geschmacklich geht das mal mehr, mal weniger gut auf.

Petits Fours
Petits Fours

Der abschließende süße Gruß gefällt mir da deutlich besser, wenngleich ich mir nicht mehr notiert habe, was es war. Köstlich war es in jedem Fall.

Petit Four
Petit Four

Sidney Schutte und Sascha Speckemeier haben bereits gemeinsam im „De Librije“ bei Jonnie und Thérèse Boer gearbeitet. Es scheint, als würden beide konsequent an dem Ziel arbeiten, nicht nur in Bezug auf die Einzigartigkeit der Küche ihren Mentoren nachzueifern, sondern auch deren Bewertungen. Die Ambitionen auf den dritten Stern sind jedenfalls unübersehbar und mit vielen Gängen ist man auf dem besten Weg.

Seltsamerweise habe ich den Abend im „Spectrum“ sehr genossen, viele Gänge bewundert, aber nicht den großen Wow-Effekt verspürt wie bei unserem ersten Besuch. Schaue ich aber in meine Aufzeichnungen und denke ich daran, wie ich das Menü ein paar Tage später erinnere, habe ich fast nur Superlative im Sinn. Einzig bei den Amuses und den Petits Fours würde ich kleine Abstriche machen. Aber vom Carabinero bis zum Dessert sind alle Gerichte von einem eigenständigen Charakter und einer Originalität, wie ich sie selten zuvor erlebt habe und die jede Höchstwertung rechtfertigen.

Mit Sascha Speckemeier hat das „Spectrum“ einen Maître, der nicht nur deutsch sprechenden Gästen ein formidabler Gastgeber ist. Aber auch der übrige Service macht seine Sache formvollendet und hervorragend.

Ich bin gespannt, wie die scheinbar unerschöpfliche Kreativitätsmaschine des „Spectrum“ in den nächsten Restaurantguides bewertet wird. Wenn hier demnächst der dritte Stern leuchten würde, wäre ich nicht überrascht.

Details

Restaurant: Spectrum
Adresse: Herengracht 542-556, 1017 CG Amsterdam
Öffnungszeiten: Dienstag - Samstag: 18.30 - 22.00 Uhr
Sonntag + Montag: Ruhetag
Website: www.restaurantspectrum.com

Schlagworte

, , , , , ,

Verwandte Artikel


Kommentare

  1. Gero Kettler am 28. September, 2019 um 16:29 Uhr.

    Wow! Das ist wirklich alles sehr, sehr beeindruckend! Und in der Tat, da war von den Gängen keiner, den ich nach deiner Beschreibung nicht auch genossen hätte. Über die Hauptgänge klage ich in der Tat auch häufiger. Aber nicht wegen der Qualität, sondern weil die Kreativität etwas nachzulassen scheint. Oder meintest du das?

  2. Thomas Westermann am 28. September, 2019 um 20:18 Uhr.

    Mein Hinweis auf die abfallende Qualität bei den Hauptgängen bezog sich tatsächlich nur auf die Kreativität, die oft nicht mit den vorherigen Gängen mithalten kann. Qualitativ ist normalerweise nichts auszustehen. Insofern ist der Passus von mir wohl missverständlich formuliert.

Dein Kommentar