
Tian, Wien
Am 12. August 2020 in Österreich | 4600 Aufrufe | 7 Kommentare
Mehr als vier Jahre liegt unser letzter Besuch im „Tian“ zurück, Österreichs weiterhin einzigem mit einem Michelinstern ausgezeichneten rein vegetarischen Restaurant. Seinerzeit noch zum bemerkenswert günstigen Mittagessen, das, obwohl etwas weniger elaboriert als das große Gourmetmenü, bereits sehr beeindruckte.
Mittlerweile hat man nur noch abends geöffnet und das Angebot konzentriert sich auf ein Menü in wahlweise sechs oder acht Gängen (121,-€ / 137,-€).
Im vergangenen Jahr hat das Restaurant ein Facelift bekommen. Schön wäre dabei auch der Einbau einer Klimaanlage gewesen, die bei den hochsommerlichen Temperaturen für etwas Abkühlung sorgen könnte. So müssen wir uns mit unseren Fächern behelfen, die uns gute Dienste leisten und für das ein oder andere amüsierte Lächeln an den anderen Tischen sorgen. Aber spätestens bei den ersten neidischen Blicken der anderen Gäste wissen wir, dass wir es geschickter angegangen sind. Ansonsten sorgt ein relaxter Musikmix sowie ein bestens aufgelegter André Drechsel für eine Atmosphäre, in der wir uns sehr willkommen fühlen.
Er ist es auch, dem wir die Weinbegleitung überlassen. Zwar nicht als absolute Natural-Verweigerer, aber doch zumindest als bekennende Skeptiker angesichts von Weinen, mit denen wir mitunter eher hadern und kämpfen, als dass sie uns Genuss bereiten, ist eine Weinkarte, die zu 99% mit Naturals und einigen Orange-Weinen bestückt ist, für uns eine Herausforderung. Aber André Drechsel versteht es, unsere Skepsis auf- und ernst zu nehmen und macht uns regelrecht Lust auf die folgende Entdeckungsreise. Um es vorwegzunehmen: Es wird eine ausgesprochen spannende Begleitung, die uns nachhaltig begeistert.
Ob die zügig servierte Variation rund um das Thema Mais Amuse Bouche oder doch bereits der erste Gang ist, spielt eigentlich keine Rolle.
Im Glas eine noch wenig markante klare Brühe, sehr reduziert der Maiskolben mit einer Rauchmayonnaise sowie ein sehr guter Chip und ein gefülltes Teigbällchen.
Nicht alles an diesem Viererlei kann mich überzeugen, aber es charakterisiert bereits, was uns an diesem Abend serviert wird, von sehr puristischen Gerichten bis zu deutlich komplexeren Kompositionen.

Und so eine kommt mit dem nächsten Gang, auch wenn die Kombination aus Tomate, Basilkum und Pinienkernen zunächst ein recht bekanntes Geschmackbild aufnimmt. Aber hier machen es die Details. Die Ochsenherztomate ist leicht angewärmt, der Tomatensud ist mit Basilikumöl gewürzt und geeister Champagner als festes Granité sorgt nicht nur für einen Temperaturkontrast, sondern lässt auch ganz fein im Hintergrund den Champagner als überraschende aromatische Ergänzung erkennen.

Der Brotgang wird von Paul Ivić als eigenständiges Gericht und als Hommage an seine Tiroler Heimat zelebriert. Zur Stosuppe, einem sehr einfachen bäuerlichen Gericht auf Basis von Sauerrahm, Sauermilch, Wasser und Mehl, gibt es Sauerteigbrot, Schüttelbrot, Butter, Dirndl, also Kornellkirschen, sowie unreife Holunderbeeren und Schlehen. Das ist ein interessanter Ausflug in eine andere Zeit und funktioniert als Storytelling ganz gut. Allerdings würde ich übertreiben, hier zu viel Genuss hineinzuinterpretieren, denn die Stosuppe und die unreifen Früchte buche ich eher als aufschlussreiche Erfahrung.
Aufgewertet wird der Gang allerdings durch den von André Drechsel gewählten Grünen Veltliner von Peter Veyder-Malberg, der über absolute Steillagen in der Wachau verfügt und diese auf sehr althergebrachte Art bewirtschaftet und im Keller verarbeitet. Damit passt er ausgezeichnet zu dem „Seinerzeit“ benannten Gang.

Mit einem Signature Dish geht es weiter, der erneut eine Geschichte erzählt und die Bedeutung der Bienen für die Landwirtschaft herausstellt. Die Bienenstöcke des Imkers, von dem das „Tian“ unter anderem Honig und Bienenwachs erhält, stehen bei dem Bauern, vom dem man auch die Karotten erhält. Die Karotte kommt in diesem Gang in diversen Texturen, als Tatar, mariniert und im kräftigen Sud. Auch ohne die Geschichte drumrum ein sehr gutes Gericht.


Sehr puristisch und minimalistisch präsentiert sich der Gang um Heurige, also Frühkartoffeln und Lauch. Letzterer ist recht weich gegrillt und kommt, zumindest für mich nicht erkennbar, ohne jede weitere Bearbeitung. Die Kartoffel befindet sich in groben Stücken. in einer knusprig ausgebackenen Hülle. Dazu gibt es am Tellerrand eine schmandartige Creme mit einigen eingelegten Lärchentrieben und separat dünne Lauchchips. Man könnte das natürlich als ausgesprochene Produktpräsentation verstehen. Aber weder Lauch noch – die zumindest für mich spannendere – Kartoffel verschaffen mir eine neue Erkenntnis oder ein besonderes Aha-Erlebnis über diese Gemüse.

Erheblich vielschichtiger wird es im Hauptgang mit einem sehr süffigen Gericht, das cremig angemachte Steinpilze mit Sonnenblumenkernen für den Crunch und Creme von Sonnenblumen kombiniert. Brombeeren setzen säuerlich fruchtige Akzente und machen dies zu einem sehr abwechslungsreichen und köstlichen Gang.
Separat, und hier kommt wieder eine interessante Variation mit ins Spiel, gibt es Sonnenblume zum Knabbern, ähnlich einem Maiskolben. Das ist eine durchaus ungewohnte, aber gut schmeckende Alternative.
Mit „Blauem Büffel“, einem verhältnismäßig milden und cremigen Blauschimmelkäse geht es weiter und Paul Ivić setzt ihn in Zusammenhang mit eingelegten Johannisbeeren und Feigen, was in sich sehr stimmig ist. Und erneut gibt der Wein, den André Drechsel dazu serviert, einen zusätzlichen Push. Der Blaufränkisch von Mike Muff, ehemals Kellermeister bei Claus Preisinger, liefert hier einen schönen Kontrast mit seiner gezügelten Wildheit und kräutrigen Noten.

Sehr schön präsentiert wird das erste Dessert um Cheesecakecreme mit Kriecherl, einer Wildpflaume und Kürbiskernen. Das ist schlotzig und unkompliziert.

Desserts stellen ohnehin immer ein Highlight im „Tian“ dar. Thomas Scheiblhofer, vom Gault Millau bereits als Pâtissier des Jahres ausgezeichnet, versteht es, fantasievolle Süßspeisen zu kreieren, die ein wenig im Kontrast zu den zum Teil sehr puristischen vorherigen Gängen stehen. Auch deshalb wählen wir am Tisch beide zur Auswahl stehende Alternativen.
Mit „Sunny Side Up“ gibt es eine fruchtige Option, in der Mango, Kokos und ein Craftbeer im Sorbet die Hauptakteure sind. Das Bier, das es auch in der Getränkebegleitung gibt, weist in der Tat selbst deutlich exotische Noten auf und passt daher vorzüglich zu diesem Signature Dish.

Recht konventionell, aber deshalb nicht minder köstlich auch das schokoladige Dessert mit Marille und Wiener Miso, das sich in vielfältigen Texturen handwerklich und geschmacklich vorzüglich präsentiert. Im Glas dazu gibt es einen höchst ungewöhnlichen und scheinbar auch nur in kleinen Mengen verfügbaren spanischen Wein. Tief dunkelbraun präsentiert sich der Diables 2018 von Amós Bañeres aus 100% Macabeu, wobei der Traubenmost schlichtweg der Hitze ausgesetzt wird und anschließend für ein Jahr die alkoholische Fermentation durchläuft. Heraus kommt ein Wein, den ich mit nichts wirklich vergleichen kann, der aber zu diesem Schokoladendessert hervorragend passt.

Die durchweg guten Petits Fours schließen dieses spannende Menü ab.

Wie man unschwer erkennen kann, war dieses Menü für mich nicht durchgehend überzeugend. An unserem Tisch gingen die Meinungen vor allem auch bei den Gängen, mit denen ich meine Probleme hatte, auseinander. Vielleicht habe ich die Idee hinter manchem Gericht nicht vollständig verstanden. Aber letztlich gilt für mich in letzter Instanz immer, ob es mir schmeckt. Und da waren die komplexeren Gänge für mich deutlich zugänglicher und brachten mir auch Vergnügen.
Wie eingangs erwähnt, hatte André Drechsel einen erheblichen Anteil daran, dass wir viel Spaß an diesem Abend hatten und manchmal ist es eben so, dass die Getränke den nachhaltigeren Eindruck hinterlassen, ohne damit das Essen schmälern zu wollen. Aber Drechsel wählt Weine aus, die obwohl in die „Natural“-Schublade gehörend, trotzdem massenkompatibel und gleichzeitig auch herausfordernd sein können. In jedem Fall stellten sie eine bereichernde Ergänzung dar. Und die dazu gelieferten Hintergründe waren immer informativ und unterhaltsam.

Nach der langen Zeit war es spannend zu sehen, auf welchem Weg sich Paul Ivić mit dem „Tian“ befindet. Er ist an vielen Stellen zum Geschichtenerzähler geworden, was eine durchaus erhellende Sicht bringen kann darauf, wie früher Essen verstanden wurde und welche Bedeutung sinnvoll und gut hergestellte Lebensmittel haben sollten. Das ist eine Art Autorenküche, auf die man sich einlassen muss. Es sind aber auch zahlreiche Gänge dabei, um das Ganze nicht zu intellektuell werden zu lassen, die sehr einfach zu verstehen und zu genießen sind. Insofern wird das „Tian“ auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen, was vegetarische und vegane Küche auf Gourmet-Niveau betrifft.
Details
Restaurant: | Tian |
Adresse: | Himmelpfortgasse 23, 1010 Wien |
Öffnungszeiten: | Mittwoch - Samstag: ab 18.00 Uhr Sonntag - Dienstag und Feiertage: Ruhetag |
Website: | www.tian-restaurant.com/wien/ |
Schlagworte
André Drechsel, kreativ, Michelin, Paul Ivic, Thomas Scheiblhofer, Tian, vegetarisch, Wien
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Jedem das Seine und Hauptsache es hat geschmeckt. Keineswegs kann mich die TIAN Philosophie überzeugen – erst recht nicht ohne Klimaanlage!
Bereichernde Einblicke in Austrias Gourmet-Veggie-Epizentrum, besten Dank! Ach, ich sollte vielleicht noch einige Deiner routinierten Berichte verschlingen bevor ich mich an den Samstag mache. Ich hadere mit einigen Dingen und weiß nicht, ob eine subjektive Ablehnung zu einer Abwertung führen sollte wie bspw. die für mich brachiale Eukalyptus-Attacke…
„Autorenküche“ – auf den Punkt! Hinreichend eingefangen durch Herz&Seele-Küche ist es bereichernd und die eigene Wahrnehmung weitend. Wie z.B. auch Extrem-Kräuter-Attacken. Ich fand es mutig und großartig, ein Ausrufezeichen, ein großer, starker Schlussakkord mit dem Paukenschlag. Aber zugegeben, da war ich recht allein beim Applaudieren.
Nun ja, ich hab ein wenig applaudiert, aber halt keine Standing Ovations gegeben wie Du, bei dem Eukalyptus-Tusch. Mutig und selbstbewusst war es allemal. Und für alle anderen: Es geht dabei nicht ums „Tian“, sondern um ein anderes Restaurant, das wir vergangene Woche gemeinsam besucht hatten.
Ich empfinde die reine Vegi Küche als sehr inspirierend, ich glaube, mir hätte es gefallen.
Paul Ivic kommt aus Tirol, nicht aus Kärnten; deswegen auch die Referenz auf das Schüttelbrot, einer Südtiroler Spezialität (das- wie der Name sagt – durch Schütteln seine Fladenform bekommt und ursprünglich der Konservierung diente), die aber auch in Nordtirol durchaus seine Verbreitung hat. In Kärnten gibt es das Schüttelbrot hingegen gar nicht.
Danke für den Hinweis. Da habe ich mich auf eine falsche Information verlassen. Ist korrigiert.